Johann Wolfgang von Goethe – „Regeln für Schauspieler“ (1803)
Goethes „Regeln für Schauspieler“ sind in der Sprache natürlich für das heutige Ohr schräg und unter Gleichberechtigungsgesichtspunkten fragwürdig. Da es gibt es unter ferner liefen zwar das eine oder andere „Frauenzimmer“, aber natürlich richten sich seine Ratschläge an männliche Schauspieler und nicht an SchauspielerInnen. Aber was soll es? Laut Goethe kann sowieso nur die männliche Stimme die wirklich wichtigen Dinge rüberbringen: „Fängt er aber zu hoch an, so verliert er schon durch die Gewohnheit die männliche Tiefe und folglich mit ihr den wahren Ausdruck des Hohen und Geistigen. Und was kann er sich mit einer grellenden und quietschenden Stimme für einen Erfolg versprechen?“
Aber mal abgesehen von diesem kleinen Exkurs -wer hätte Goethe schon als Gender-Spezialisten eingestuft? (Wobei… sind die „Wahlverwandtschaften“ nicht irgendwie doch ganz offen? Egal. Das ist ein anderes Thema.) sind in den „Regeln für Schauspieler“ ganz brauchbare Sachen zu finden, die ich im Sprechtraining tatsächlich anwende. Ich war erstaunt, so Vieles zu finden, was in meinen Augen aktuell ist. 91 Paragraphen hat Goethe verfasst, in denen er seinen Akteuren Ratschläge gibt, wie ein gelungenes Spiel auf der Bühne auszusehen hat.
Haltung, Atmung, Stimmlage, Betonung, Mimik und Gestik – vor mehr als 200 Jahren für den öffentlichen Auftritt genauso relevant wie heute. Und im 21. Jahrhundert kann frau es ja auch verwenden oder es mal versuchen ;-).
In § 15 zum Beispiel schreibt er zur Stimmlage:
„Zugleich ist zu raten, im Anfange so tief zu sprechen, als man es zu tun imstande ist, und dann abwechselnd immer im Ton zu steigen; denn dadurch bekommt die Stimme einen großen Umfang und wird zu den verschiedenen Modulationen gebildet, deren man in der Deklamation bedarf.“
Ob es jetzt ausgerechnet so tief sein muss, wie man imstande ist zu sprechen, sei dahingestellt. Aber zumindest lohnt es doch, mal zu überprüfen, ob die eigene Sprechstimme nicht doch oft ein bisschen zu hoch ist und über der natürlichen gesunden Indifferenztonlage liegt. Die Folgen sind z.B. Räusperzwang, Verspannungen und eine auf Dauer angestrengte Stimme. Mal ganz abgesehen vom Klang, der sich tatsächlich oft leicht gespannt anhört und für den Zuhörer unangenehm ist.
Die Indifferenztonlage findet man zum Beispiel, indem man spontan auf die alltägliche Frage „Wie spät ist es?“ antwortet. Es gibt auch andere Wege, die individuell unterschiedlich sind. Häufig ist die Entdeckung der eigenen unangestrengten, natürlichen Tonlage ein sehr erhellender Moment. Sowohl bei Frauen als auch Männern ist diese Tonlage häufig tiefer als erwartet.
In den Paragraphen 19 und 20 schreibt Goethe von den Unterschieden zwischen Rezitation und Deklamation. Das hat mich stark an das erinnert, was ich versuche, bezüglich der Betonung zu vermitteln. Es geht eben bei Vorträgen und Präsentationen nicht darum, mit übertriebenem Gestus die Inhalte vorzuspielen, einzelne Worte durch eine Erhöhung der Stimme herauszustellen, sondern darum, relevante Inhalte stark und fest zu sprechen. Selten sind das einzelne Wörter, eher sind es Wortgruppen und überraschenderweise hat nicht jeder Satz betonenswerte Wörter. Wenn die Relevanz durch Festigkeit und Stärke herausgestellt wird, stimmen die Wichtigkeit des Inhaltes und die Art, wie er gesprochen wird, überein.
Aber wie schafft man es, fest und stark zu betonen? Ich setze dabei ganz auf eine positive Körperspannung. Das hat etwas fast Sportliches und sehr Dynamisches. Die Begeisterung, die Dynamik, die Kompetenz der/des Sprechenden ist spürbar. Gesten werden kraftvoll, der Atemstrom verändert sich und die Stimme wird tragfähiger und voller. Das ist anfänglich anstrengend und ungewohnt, wird aber irgendwann zu einer natürlichen Haltung.
Auch dazu hat Goethe Ideen gehabt: Zu einer guten Körperbeherrschung rät er zum Beispiel in § 36: „Jeder Teil des Körpers stehe daher ganz in seiner Gewalt, so daß er jedes Glied gemäß dem zu erzielenden Ausdruck frei, harmonisch und mit Grazie gebrauchen könne.“
In den Paragraphen 37 bis 40 gibt er Hinweise zur Ausrichtung des Körpers in Bezug auf das Publikum. Gut, 1803 gab es keine Whiteboards, keine Powerpoint-Präsentationen, aber auf einer Bühne steht der/die Vortragende ja irgendwie doch… Und irgendwie war auch zur Zeit ohne Pointer und Kugelschreiber schon die Frage akut „Wohin bloß mit den Händen?“:
§ 44 „Um eine freie Bewegung der Hände und Arme zu erlangen, tragen die Akteurs niemals einen Stock.“ Ein Pointer muss manchmal sein, ok. Aber hilft der Notizzettel wirklich? Oder ist er nicht genau so ein Haltestock wie ein Kugelschreiber? Am Ende werden die Gesten freier, wenn man nichts in den Händen hält und sie im übrigen bitte nicht in die Tasche steckt – damals wie heute:
§ 45 „Die neumodische Art, bei langen Unterkleidern die Hand in den Latz zu stecken, unterlassen sie gänzlich.“
Bei der Gelegenheit einige visionäre Worte aus Paragraph 46 zum Thema „Merkel-Raute“:
„Es ist äußerst fehlerhaft, wenn man die Hände entweder übereinander oder auf dem Bauche ruhend hält (…).“
Aber was dann mit den Händen machen? Nichts festhalten, nicht vor dem Körper lagern. Was sagt JWG?
§ 47 „Die Hand selbst aber muß weder eine Faust machen noch wie beim Soldaten mit ihrer ganzen Fläche am Schenkel liegen, sondern die Finger müssen teils halb gebogen, teils gerade, aber nur nicht gezwungen gehalten werden.“
Ich bin fast einverstanden. Eine Faust nämlich kann gerade am Anfang, beim Üben ohne Publikum, sehr hilfreich sein. Welche individuelle Handhaltung dann stimmig ist, ist sehr unterschiedlich. Paragraph 48 hört sich da kompliziert an, vielleicht wäre es aber den Versuch wert?
„Die zwei mittlern Finger sollen immer zusammenbleiben, der Daumen, Zeige- und kleine Finger etwas gebogen hängen. Auf diese Art ist die Hand in ihrer gehörigen Haltung und zu allen Bewegungen in ihrer richtigen Form.“
Goethe ist vor allem ein Fan eher gemessener Bewegungen. Der Inhalt soll nicht „gemalt“ werden, beim „Ich“ sollte der Schauspieler nicht auf sich weisen und auch das Zeigen von Körperteilen hält der Dichterfürst nicht für sinnvoll:
§ 54 „Betrifft es den eigenen Körper, so hüte man sich wohl, mit der Hand den Teil zu bezeichnen, den es betrifft, z.B. wenn Don Manuel in der »Braut von Messina« zu seinem Chore sagt:
Dazu den Mantel wählt, von glänzender
Seide gewebt, in bleichem Purpur scheinend,
Über der Achsel heft ihn eine goldne
Zikade –
so wäre es äußerst fehlerhaft, wenn der Schauspieler bei den letzten Worten mit der Hand seine Achsel berühren würde.“ Ein Gedanke, der zum Lachen anregt, genau wie § 67:
„Der Schauspieler, besonders der jüngere, der Liebhaber und andere leichte Rollen zu spielen hat, halte sich auf dem Theater ein Paar Pantoffeln, in denen er probiert, und er wird sehr bald die guten Folgen davon patek philippe replica uhren bemerken.“ Aber gut, das ist geschmäcklerisch und vielleicht mit einem kleinen Deal zu lösen: Pantoffeln gegen kleine Beutel: „Die Frauenzimmer sollten ihre kleinen Beutel beiseite legen.“ (§ 69) Immerhin, in gewisser Weise war Goethe gegen Manspreading:
„Es gehört unter die zu vermeidenden ganz groben Fehler, wenn der sitzende Schauspieler, um seinen Stuhl weiter vorwärts zu bringen, zwischen seinen obern Schenkeln in der Mitte durchgreifend, den Stuhl anpackt, sich dann ein wenig hebt und so ihn vorwärts zieht. Es ist dies nicht nur gegen das Schöne, sondern noch viel mehr gegen den Wohlstand gesündigt.“ (§ 73)
Der offensive Gebrauch von Schnupftüchern auf der Bühne -ein absolutes No Go! Glück gehabt.
Es gibt durchaus Lustiges zu lesen, aber auf unsere Zeit übertragen auch einiges, was durchaus brauchbar ist. Ich nehme einiges mit und empfehle die Lektüre.
Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Kunsttheoretische Schriften und Übersetzungen [Band 17–22], Band 17, Berlin 1960 ff